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andere geschichte

Am 12. Oktober 1990 öffnete Petra Fehlhaber in der Wismarschen Straße in einem 42 qm großen Laden "die andere Buchhandlung". Eigentlich sollte es ein Antiquariat werden, mit einem Sortiment für "ihre" KundInnen, doch mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 gab es plötzlich auch einen ungehinderten Zugriff auf die fast eine Million lieferbare Titel des bundesdeutschen Buchmarktes. Es gab also kein geschicktes Lavieren um Zuteilungen seitens einer Zentralauslieferung, sondern plötzlich die "Qual der Wahl": Aus über 60.000 jährlichen Neuerscheinungen mussten die ca. 5.000 für "ihre" KundInnen ausgewählt werden.

Monatelang vorher hatte sich das dreiköpfige Team um Petra Fehlhaber durch Berge von Verlagsprospekten durchgearbeitet, um überhaupt erst einmal einen Überblick zu gewinnen. Vorher waren die Profile der 83(!) DDR-Verlage klar gewesen: Der Landwirtschaftsverlag hat Landwirtschafts- und Naturbücher verlegt, der "Verlag für die Frau" - nein, der hat keine Frauenbücher verlegt, sondern das Standardkochbuch der DDR, das auch heute noch immer wieder aufgelegt wird, und das Strickbuch und ... (Petra Fehlhaber wußte, warum sie in und mit dem "Unabhängigen Frauenverband" eine andere Politik haben wollte.). Nun lagen vor dem Team die Programme von nahezu 1.000 "Gemischtwarenläden", denn die Profile der bundesdeutschen Verlage waren vielseitig, ständig in Entwicklung, eben stark abhängig von den Menschen, die diese Verlage betrieben, das Programm mit Leben erfüllten, und letztlich darauf ausgerichtet, was sich am besten am Markt verkaufen ließ.

Petra Fehlhaber selbst, geb. Fischer, arbeitete seit 1978 im Buchhandel des Bezirkes Rostock, hatte dort die übliche Ausbildung durchlaufen, mit Besuch der Buchhändlerschule in Leipzig. Ihre wohl wichtigste Zeit war die im Norddeutschen Antiquariat, damals noch in der Kröpeliner Straße ansässig. Der Wunsch nach Selbständigkeit und eigener Buchhandlung war bei ihr schon zu DDR-Zeiten entstanden, nur die Möglichkeiten dafür waren bis zur Unmöglichkeit eingeschränkt, bis mit der Wende 1989 plötzlich nichts unmöglich schien.

Ein nicht unwichtiges Problem war der Name der Buchhandlung, doch nach wochenlangem Hin- und Herüberlegen machte das junge Team eine Anleihe bei der Bürgerbewegung: In Berlin erschien in dieser Zeit "die andere Zeitung", daraus wurde in Rostock "die andere Buchhandlung" als Name, der inhaltlich Programm war wie auch sich abheben sollte vom bisher bekannten Buchhandel. Bei diesem Namen ist es bis heute (fast) geblieben.

Die Unruhe der Wendezeit ist in der Geschichte der "anderen buchhandlung" immer noch zu spüren, obwohl für viele KundInnen die Buchhandlung ein Ort der Ruhe geworden ist:

-> 1991 kaufte Petra Fehlhaber die Volksbuchhandlung in Rostock-Reutershagen, die sie bis 1989 geleitet hatte.
-> 1992 baute sie diese um, erweiterte und eröffnete sie als "Buchhandlung Reutershagen" neu. Außerdem hieß sie plötzlich Petra Fehlhaber-Keiper.
-> 1993 zog "die andere buchhandlung" innerhalb der Wismarschen Straße in größere Räume.
-> 1994 eröffnete Petra Fehlhaber die "Buchhandlung Toitenwinkel" im damals "jüngsten Stadtteil Deutschlands" (35% der EinwohnerInnen unter 14 Jahren).
-> 1995 starb Gründerin und Alleininhaberin Petra Fehlhaber-Keiper völlig unerwartet nach kurzer, schwerer Krankheit. Die "Buchhandlung Toitenwinkel" wurde nach zehn Monaten sofort wieder geschlossen. Ich, Manfred Keiper, übernahm als Erbe die Buchhandlungen.
-> 1996 mußte "die andere Buchhandlung" an den Ulmenmarkt umziehen.
-> 1999 wurde die "Buchhandlung Reutershagen" wegen unsäglicher Sanierungsarbeiten im Umfeld geschlossen.
-> 2005 verließ "die andere Buchhandlung" den Ulmenmarkt und wurde in der Wismarschen Str. 6/7 (nein, nicht mehr 18, und auch nicht 11) als "andere buchhandlung" neu eröffnet.

Inzwischen haben über 800 Lesungen und Veranstaltungen (Stand: 2015) stattgefunden, wurde zwischenzeitlich der "Museumsshop" in der Kunsthalle Rostock (Christo-Ausstellung) betrieben und seit 2002 - zusammen mit Waldemarhof e.V. und Literaturhaus Rostock - die LESEWÜRMER, der Vorlesewettbewerb für Grundschüler in Rostock und Umgebung, ausgerichtet. 2015 wurde der Buchhandlung der "Deutsche Buchhandlungspreis" verliehen, sie dann zu einer der "schönsten Buchhandlungen Deutschlands" gekürt. Seit 2008 ist die Buchhandlung an der LiteraTour Nord beteiligt.

Die "andere buchhandlung" betreut Lesungen anderer Veranstalter mit Büchertischen, ebenso Konferenzen und Kongresse.

Update

-> 2019 wurde die Buchhandlung an diesem Standort umgebaut und erweitert. Nun endlich haben wir knapp 200 qm Fläche im Verkaufsraum zwei große Schaufenster zum Doberaner Platz hin, hinten im Lager sind 100 neue Stühle gestapelt für die Lesungen. Aber - wir dürfen auch verkünden: "Kultur hat Kapital verdrängt!" Wir danken, dass uns so viel Macht zugesprochen wird, die Realität sieht aber realer aus.
-> 2019 ist auch eine Tochterfirma dazu gekommen: Der "ab Medienservice" liefert die Bücher des Grünberg Verlages an den gesamten Buchhandel aus und gibt die "Lesart - unabhängiges Journal für Literatur" heraus.
-> 2020 erfolgten die Zwangsschließungen im Rahmen des Corona-Lockdowns. Die Buchhandlung musste in dieser Zeit vollständig auf Besorgungsdienst umstellen, im ersten Lockdown ausschließlich mit Lieferdienst, im zweiten Lockdown zumindest mit hoch frequentierter Abholstation. Zuerst stand die Befürchtung, dass diese Zwangsschließung nach 30 Jahren nun doch das Aus der Buchhandlung bedeuten könnte. Es hat viel Schweiß gekostet, aber wir haben den Lockdown überstanden und bewältigt, aber die Jubiläumsfeier zum 30. Geburtstag der Buchhandlung ist der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen, ebenso der 31., der Primzahl-Geburtstag. Nun hoffen wir auf 2022!
-> 2021 bekam die Buchhandlung die Auszeichnung als "Beste der Nominierten" den Buchhandlungspreis 2021 - sozusagen in GOLD - verliehen.