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Kampf der Eliten

Das Ringen um gesellschaftliche Führung in Lateinamerika, 1810-1982

Erschienen am 10.08.2009, 1. Auflage 2009
41,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593390437
Sprache: Deutsch
Umfang: 361 S.
Einband: Paperback

Beschreibung

Der Elitebegriff hat besonders in den letzten Jahren Konjunktur und gewinnt fortlaufend an Brisanz. Allerdings fehlt seinem Gebrauch meist die nötige Trennschärfe: Häufig signalisiert er zum einen die Suche nach leistungsstarken gesellschaftlichen Führungskraften, zum anderen drückt er Empörung über die »Unfähigkeit« der politischen Klasse aus. Jenseits dieses Phänomens stellt sich die Frage nach dem theoretischen Gehalt des Elitebegriffes. Inwiefern ist er relevant für die politische Theorie? Worin liegt sein analytisches Potential? Die Antwort dieses Buches lautet: In der historisch vergleichenden Forschung, die den Kampf um gesellschaftliche Führung zwischen Eliten in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Denn erst so lassen sich nationale Entwicklungspfade rekonstruieren, anhand derer sich Konflikte zwischen Eliten und die Austragung dieser Konflikte herauskristallisieren. Aus diesem Blickwinkel müssen Bildung und Erneuerung der Eliten als Prozesse von langer Dauer verstanden werden, die entscheidend für die historische Entwicklung aller Gesellschaften sind. Auf Grundlage dieser theoretischen Diskussion untersucht das Buch die Geschichte Lateinamerikas von der politischen Emanzipation von Europa bis zum ökonomischen Zusammenbruch von 1982. Dabei stehen Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko im Fokus, so dass vier Länder im Detail vergleichend untersucht werden. Der Autor lenkt den Blick auf die Frage, inwiefern gemeinsame Probleme - etwa die politische Unabhängigkeit von Europa, die Formierung des Staates oder der Umgang mit der sozialen Frage - von den jeweiligen Eliten eines Landes unterschiedlich wahrgenommen und gelöst worden sind. Im Gegensatz zu europäischen Diskursen, die Lateinamerika vielfach romantisieren (andauernde Aufstände und Aufstieg charismatischer Führer) oder degradieren (permanente Korruption und Unterentwicklung), bietet dieses Buch eine nüchterne Darstellung dieser komplexen Region. Statt sie zu exotisieren, wird demonstriert, dass sich aus dem Kampf zwischen den jeweiligen Eliten wesentliche Weichenstellungen ergeben haben, anhand derer sich historische Entwicklungspfade rekonstruieren lassen.

Leseprobe

Vorwort von Herfried Münkler Lateinamerika, seine politische Geschichte, seine sozio-ökonomische Position im globalen Zusammenhang sowie seine Stellung in einer zukünftigen Weltordnung spielen im publizistischen wie wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsfokus der Deutschen eine eigentümliche Rolle. Man kann gewiss nicht sagen, Lateinamerika sei für uns ein vergessener (Halb-) Kontinent, wie dies etwa von Afrika immer wieder behauptet wird, aber der spanisch- beziehungsweise portugiesischsprachige Teil Amerikas unterliegt ausgeprägten Aufmerksamkeitszyklen, in denen sich eine nervöse Angespanntheit als Grundlage gesteigerten Interesses mit achselzuckend gelangweiltem Desinteresse abwechseln. Für einige Zeit sind Mittel- und Südamerika in aller Munde, und dann wieder könnte man bei dem Blick in deutsche Zeitungen oder die Kataloge der deutschsprachigen Neuerscheinungen wissenschaftlicher Verlage fast den Eindruck gewinnen, dass es die Großregion gar nicht mehr gibt. Dabei sind diese Aufmerksamkeitskonjunkturen weniger von der politisch-institutionellen Entwicklung oder dem wirtschaftlichen Gewicht Lateinamerikas in der Globalökonomie geprägt, sondern angefeuert hat sie vor allem die Gewaltgeschichte des Kontinents, auf die man in Deutschland, aber sicherlich nicht nur hier, einerseits mit Erlösungserwartungen und einer romantisch unterlegten Sakralisierung der handelnden Personen und andererseits mit gelegentlich entsetzter, gelegentlich aber auch bloß gleichgültiger Abwendung von den Staatsstreichen, Unterdrückungskampagnen und dem exzessiven Gebrauch der Folter reagiert. Lateinamerika war und ist für die Deutschen, vermutlich aber auch für die Westeuropäer in ihrer überwiegenden Mehrheit, mehr ein projektiver Imaginationsraum als ein Feld sorgfältiger Analysen, die angestellt werden, um Schnittfelder mit den eigenen Interessen herauszufinden und Perspektiven strategischer Kooperation zu entwickeln. Vielmehr haben Fidel Castro und Ché Guevara, zeitweilig auch die Sandinisten in Nicaragua die romantische Vorstellung von der "schönen Revolution" befeuert, die im Gegensatz zur kalten Tristesse der bolschewistischen Machteroberungen in Russland und Osteuropa in eine buchstäbliche Nähe zum Paradies führen sollte, während auf der anderen Seite Somoza, die Familie Trujillo und vor allem der chilenische General und Präsident Augusto Pinochet für die Schrecken der politischen Repression, der grausamsten Foltermethoden und der hundertfachen Massaker stehen. Lateinamerika gerät entweder in romantisierter, wenn nicht messianisch aufgeladener Gestalt oder als Inbegriff politischen Scheiterns, sozialer Auflösung und notorischer Rückständigkeit in unseren Aufmerksamkeitsfokus, wohingegen der nüchterne Blick auf die lateinamerikanische Geschichte seit der Emanzipation aus dem zerfallenden spanischen Imperium eher die Ausnahme darstellt. Dieses Defizit - zumindest teilweise - zu beheben, ist der Anspruch der hier vorgelegten Arbeit von Cristóbal Rovira Kaltwasser. Bei seinem Versuch, die politisch-mythischen Projektionsflächen zu durchbrechen, hat er sich durch den Rückgriff auf die älteren Elitetheorien, wie sie von Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, eines Analyseinstruments bedient, das in der hiesigen Soziologie und Politikwissenschaft weitgehend außer Gebrauch gekommen ist und eigentlich nur noch in der politischen Ideengeschichte als Sachwalter des Archivs früherer Theorien eine Rolle spielt. Cristóbal Rovira Kaltwasser hat diese alten Instrumente soziologisch-politologischer Analyse aus dem Archiv geholt, sie eingehend geprüft und neu geschliffen, um sie für seine vergleichende Analyse lateinamerikanischer Entwicklungspfade nutzbar zu machen - und siehe da: was als von der sozialen und politischen Entwicklung überholte museale Bestände der Sozialwissenschaften erschien, entpuppte sich als probates Mittel, nicht nur um die spezifischen Elitenkoalitionen und deren jeweilige Interessenkonstellationen in einzelnen Ländern Lateinamerikas zu untersuchen, sondern vor allem, um die jeweiligen Entwicklungspfade dieser Länder einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen, in der die Voraussetzungen und Folgen dieser Elitenkoalitionen deutlich wurden. Selbstverständlich lässt sich auch gegen Roviras Herangehensweise der klassische Vorwurf gegen die Elitentheorien geltend machen, wonach sie ihre Aufmerksamkeit nur auf "die da oben" fokussierten und "die da unten" als bloßen Resonanzkörper oder Spielball von Elitehandeln betrachteten. Tatsächlich spielen "die Massen" beziehungsweise die große Mehrheit der Bevölkerung in den nachfolgenden Untersuchungen keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle. Das werden vor allem diejenigen kritisch registrieren, die eine gewisse Affinität zu Lateinamerika als politisch-sozialrevolutionärer Erlösungsregion haben. Fabrik- und Landarbeiter, Bauern und untere Mittelschicht haben in der vergleichenden Betrachtung des mexikanischen und brasilianischen, des argentinischen und des chilenischen Entwicklungswegs keinen geschichtsmächtigen Platz; wenn sie in den Blick geraten, dann in jenen Umbruchsituationen, in denen es zu einer Neuordnung des Elitenarrangements kam, und auch dann eigentlich nicht als ein handlungsfähiger Faktor, sondern als eine Größe, die durch das Neuarrangement der Eliten zu befrieden und ruhig zu stellen ist. Aber Cristóbal Rovira schreibt keine normative Gesellschaftstheorie, sondern sein Hauptinteresse gilt der komparativen Betrachtung lateinamerikanischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, und dabei sucht er zu erklären, warum die Geschichte der vier von ihm als paradigmatisch ausgewählten Länder einige Male deutlich unterschiedlich verlief, wiewohl die "materiellen Faktoren" einander eher ähnlich waren. In Abgrenzung von geopolitischen oder sozio-ökonomischen Determinationsvorstellungen, aber auch einer Geschichtsbetrachtung, die keine strukturellen Faktoren, sondern nur personenbezogene, oder aber gänzlich rätselhafte Kontingenzen kennt, vermag Rovira durch die rekonstruktive Analyse von Elitenkoalitionen zu zeigen, warum bestimmte Entwicklungswege beschritten wurden und welche Folgen dies für die Geschichte der untersuchten Länder hat. Die von ihm auf der Grundlage von Elitenkoalitionen beschriebenen Pfadabhängigkeiten der vier lateinamerikanischen Länder sind aber nicht als unveränderliche Festlegungen zu verstehen. Es gehört zu den theoretischen Besonderheiten der vorliegenden Untersuchung, dass sie den Eliten die Möglichkeit zugesteht, unter bestimmten Umständen, in der Regel in sogenannten "critical junctures", neue Entwicklungspfade festlegen beziehungsweise auf sie einschwenken zu können. Diese in der US-amerikanischen Sozialwissenschaft verschiedentlich erörterte Perspektive eines Pfadwechsels - zu nennen sind hier Charles Tilly, Theda Skocpol, David Collier und andere - wird von Rovira mit den von ihm untersuchten Neuarrangements der Elitenkoalitionen verbunden, die zur erklärenden Variable für die mehrfach zu beobachtenden Wechsel von Entwicklungspfaden wird. Es handelt sich hier um einen in der deutschen Politikwissenschaft wenig gebräuchlichen Ansatz, der folgenreiche Richtungswechsel beim Beschreiten von Entwicklungspfaden erklären kann, ohne dass dazu auf einen längst überdehnten und zur Metapher gewordenen Revolutionsbegriff zurückgegriffen werden müsste. Die komparative Analyse von Elitenkoalitionen, wie sie von Cristóbal Rovira Kaltwasser gepflegt wird, bietet zugleich eine Erklärung dafür, warum eine unter bestimmten Gegebenheiten als geradezu optimal zu bezeichnende Elitenkoalition unter veränderten Gegebenheiten alles andere als funktional ist, sondern zu einer Blockierung des Elitentausch führen beziehungsweise die zuvor reibungslos verlaufende Kooptation von Gegeneliten unmöglich machen und in Folge dessen Gesellschaften, die zuvor ihre Interessensgegensätze und Konflikte friedlich zu...

Inhalt

Inhalt Vorbemerkung Vorwort von Herfried Münkler 1. Einleitung Teil I: Theoretische Diskussion 2. Zur Rekonstruktion der klassischen Elitentheorie 2.1 Die Relevanz der klassischen Elitentheorie für die Interpretation der lateinamerikanischen Realität 2.2 Der Durchbruch der klassischen Elitentheorie mit ihrem Zeitgeist: Zyklus- statt Fortschrittsgeschichtsphilosophie 2.3 Die Gründer der Elitentheorie: Vertreter einer realistischen Rhetorik 2.4 Die vergessene Analyse der gesellschaftlichen Führung bei der klassischen Elitentheorie 3. Eliten: Umriss eines mehrdeutigen Forschungsgegenstandes 3.1 Eliten und herrschende Klasse(n): zwei unterschiedliche Forschungsgegenstände 3.1.1 Marx'' Theorie der herrschende Klasse 3.1.2 Bourdieus Theorie der herrschenden Klassen 3.1.3 Zwei unterschiedliche Forschungsgegenstände 3.2 Entstehung und Entwicklung des Elitebegriffs in den Sozialwissenschaften 3.2.1 Leistungseliten 3.2.2 Funktionseliten 3.2.3 Werteliten 3.2.4 Bilanz und idealtypische Definition des Elitebegriffs 4. Zu einer historischen Analyse der Eliten 4.1 Elitenausdifferenzierung innerhalb von vier Machtsphären 4.2 Zwei Facetten der horizontalen Elitenintegration 4.3 Exkurs: Hegemonie statt vertikaler Elitenintegration 4.4 Das Analyseraster der historisch vergleichenden Forschung: Entwicklungspfade und "critical junctures" Teil II: Historische Analyse 5. Die Unabhängigkeit und die Suche der Eliten nach einer neuen Ordnung (ca. 1810-1880) 5.1 Die Emanzipationsbewegungen: Elitenzirkulation und Ausbildung einer territorialen Ordnung 5.2 Die Umgestaltung der alten Ordnung: Primat des Großgrundbesitzes und Entstehung neuer Konfliktlinien zwischen den Eliten 5.2.1 Föderalismus und Zentralismus: der Disput um das Territorium 5.2.2 Konservatismus und Liberalismus: der Disput um die "gute Gesellschaft" 5.2.3 Entwicklungspfade bei der Herausbildung von Weltbildern 5.2.4 Entwicklung und Überlappung der Konfliktlinien 6. Autoritäts- und Machtkonsolidierung der Eliten in der oligarchischen Ordnung (ca. 1880-1929) 6.1 Gesellschaftliche Transformationsprozesse und Konstituierung einer oligarchischen Ordnung 6.1.1 Argentinien: gemeinsames Zivilisationsprojekt 6.1.2 Brasilien: Neuarrangement zwischen regionalen Eliten 6.1.3 Chile: selektive Elitenkooptation 6.1.4 Mexiko: Positivismus und Porfiriat 6.1.5 Wechselspiel der Eliten zwischen sozialer Öffnung und sozialer Schließung 6.2 Die Belle Epoque als Zenit der oligarchischen Ordnung: die soziale Schließung der Eliten 6.2.1 Die Replik der städtischen Reformen Haussmanns 6.2.2 Die Hundertjahrfeier der politischen Emanzipation 6.3 Professionalisierung der Streitkräfte nach europäischen Modellen und Ausbildung einer rudimentären Funktionselite 7. Aufstieg und Niedergang der nationalpopulären Ordnung (ca. 1929-1982) 7.1 Erneuerung der Eliten dank des Staates und der Ausbildung technokratischer Kreise 7.1.1 Aufstiegsphase (ca. 1929-1948) 7.1.2 Konsolidierungsphase (ca. 1948-1973) 7.1.3 Niedergangsphase (ca. 1973-1982) 7.1.4 Die "Balkanisierung" des Staates 7.2 Die begrenzte Autonomie der Machtsphären am Beispiel der kulturellen Eliten: Intellektuelle als Lakaien der Politik 7.3 Der Kampf der Eliten um das Volk und die Bildung von Regierungsexperimenten 7.3.1 Argentinien: Elitenuneinigkeit und prekäre Hegemonie 7.3.2 Brasilien und Chile: unvollständige Elitenübereinkunft und allmähliche Erosion der Hegemonie 7.3.3 Mexiko: Elitenübereinkunft und solide Hegemonie 8. Kampf der Eliten und Formierung von Entwicklungspfaden: jenseits der Exotisierung Lateinamerikas 9. Literatur